Lehrkräftemangel muss nachhaltig angegangen werden. PISA-Studie allein für Bildungsziele nicht dienlich. DPhV weist »Gerede vom Niedergang des Gymnasiums«
scharf zurück – PISA-Zahlen dürfen nicht isoliert interpretiert werden.
Die heute veröffentlichten PISA-Ergebnisse zeigen aus Sicht des Deutschen Philologenverbands (DPhV) mindestens zweierlei, nämlich im Schlechten durchaus auch Positives, so die DPhV-Vorsitzende Prof Dr. Susanne Lin-Klitzing. Zum einen sei es gelungen, trotz der Schwierigkeiten während der Corona-Krise den Anteil der Schülerinnen und Schüler in den niedrigsten Kompetenzstufen in allen Kompetenzbereichen unter dem OECD-Durchschnitt zu halten. Gleichzeitig sind z.T. sichtbar mehr Schülerinnen und Schüler als im OECD-Durchschnitt in den obersten Kompetenzstufen, so z.B. im Bereich der Naturwissenschaften. Dabei sei die Leistungsschere nicht (!) weiter aufgegangen, der Abstand zwischen den leistungsstärksten und -schwächsten Schülerinnen und Schülern veränderte sich im jüngsten Zeitraum nicht signifikant, wie die PISA-Ergebnisse zeigen.
Lin-Klitzing dankt vor diesem Hintergrund den engagierten Lehrkräften in Deutschland. »Es ist angesichts der vielen belastenden Bedingungen beeindruckend, was unsere Lehrkräfte tagtäglich leisten. Das äußert sich nicht zuletzt auch in den zusätzlichen Unterstützungsangeboten, die die große Mehrheit der Schüler und Schülerinnen ihren Lehrkräften etwa im Mathematik-Unterricht bescheinigen.«
Selbstverständlich könne man zum anderen mit der Leistungsentwicklung über die Zeit betrachtet überhaupt nicht zufrieden sein. Lin-Klitzing: »Obwohl die Studie schulische Bildungsziele als Gesamtheit nicht ausreichend abbildet, bestätigt sie doch insgesamt leider negative Trends, die wir seit Jahren beobachten.« Laut PISA fielen 2022 die Durchschnittsergebnisse in Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften bei den getesteten 15-Jährigen schwächer aus als 2018. Zudem handelt es sich dabei in allen drei Kompetenzbereichen um die niedrigsten Werte, die jemals im Rahmen von PISA gemessen wurden.
Herausfordernde Rahmenbedingungen für das System Schule
Die Gründe für die nicht zufriedenstellenden PISA-Ergebnisse sind laut Lin-Klitzing dabei z.T. hausgemacht. So litten die Lernergebnisse vieler Schülerinnen und Schüler auch unter den derzeit sehr herausfordernden Rahmenbedingungen für das System Schule insgesamt und für die Lehrkräfte. Lin-Klitzing: »Es ist es wichtig, dass die Politik den Fachunterricht wieder zur Priorität erklärt. Lehrkräfte müssen umgehend und nachhaltig von unterrichtsfernen Aufgaben entlastet werden – sie sind weder Hilfskräfte in der Verwaltung, Sozialarbeiter noch Reiseverkehrskaufleute. Sie sind Fachleute für die Vermittlung ihrer Fächer – die brauchen wir, wie die fachlichen Leistungen unserer Schülerinnen und Schüler in PISA zeigen, heute mehr denn je. Und wir müssen dafür sorgen, dass Lehrkräfte das auch in Zukunft bleiben. Deswegen müssen die Fachwissenschaften in der ersten Phase der Lehrkräftebildung erkennbar gestärkt werden, statt sie zu Gunsten wechselnder gesellschaftlicher ‚Reparaturaufgaben‘ immer weiter an den Rand zu drängen.«
Und auch wenn der Schwerpunkt in diesem Jahr auf Mathematik liege, so seien aus Sicht des DPhV die abfallenden Leistungen in der Lesekompetenz seit 2015 zu beklagen. Lin-Klitzing: »Das Beherrschen der deutschen Sprache ist und bleibt die Grundlage unserer Kultur und damit das Fundament unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts. Wir dürfen es einfach nicht hinnehmen, dass sie von so vielen jungen Menschen in unserem Land nicht ausreichend beherrscht wird.«
DPhV weist »Gerede vom Niedergang des Gymnasiums« scharf zurück / PISA-Zahlen dürfen nicht isoliert interpretiert werden
Der Deutsche Philologenverband (DPhV) wehrt sich gegen die im Zuge der PISA-Studie gegenüber dem Gymnasium geäußerte Kritik. DPhV-Vorsitzende Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing sagt: »Wir werden es nicht zulassen, dass mit Verweis auf PISA die Leistungen des Gymnasiums schlechtgeredet werden! Das beruht auf einer bewusst isolierten Deutung der Daten und ist unfair gegenüber Hunderttausenden engagierten Lehrkräften!« Eine seriöse Interpretation einer internationalen Untersuchung wie PISA benötige neben der nationalen, schulartspezifischen Perspektive mindestens auch eine internationale Perspektive – und gerade in diesem Erhebungszyklus auch die zeitliche Zusammenhangsperspektive angesichts der Corona-Pandemie. PISA-Bildungsforscher hatten u.a. in der »ZEIT« von einem »Niedergang des Gymnasiums« und mangelnder Unterrichtsqualität gesprochen.
Leistungen an den Gymnasien OECD-Spitze
Wenn man aber schon die verschiedenen Schularten in Deutschland differenzieren will, dann bitte auch redlich: Betrachtet man bei PISA die untersuchten Kompetenzen in Abhängigkeit von der besuchten Schulart, erreichen die deutschen Schülerinnen und Schüler bei den mathematischen Kompetenzen am Gymnasium im Durchschnitt 546 Punkte und an den nicht-gymnasialen Schularten 438 Punkte. Die erreichten Mittelwerte in den die OECD-Skala anführenden drei Ländern betragen für Japan 536 Punkte, für Korea 527 und für Estland 510 Punkte. Bei den naturwissenschaftlichen Kompetenzen werden am Gymnasium im Durchschnitt 570 Punkte erreicht, an den nicht-gymnasialen Schularten 454 Punkte. Die erreichten Mittelwerte in den drei die OECD-Skala hier anführenden Ländern betragen für Japan 547 Punkte, für Korea 528 und für Estland 526 Punkte. Bei den Lesekompetenzen werden am Gymnasium im Durchschnitt 556 Punkte erreicht, an den nicht-gymnasialen Schularten 442 Punkte. Die erreichten Mittelwerte in den drei die OECD-Skala hier anführenden Ländern betragen für Irland 516 Punkte ebenso wie für Japan, und für Korea 515 Punkte. Damit schneiden die deutschen Gymnasien nicht nur nicht schlechter ab als die führenden OECD-Staaten, sondern teils sogar besser.
Lin-Klitzing: »Natürlich ignorieren wir nicht, dass die Leistungen an den Gymnasien seit der letzten Erhebung gesunken sind. Und auch nicht, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den unteren Kompetenzstufen zugenommen hat. Aber wir erwarten, dass in der Debatte die Relationen berücksichtigt werden: Im Vergleich zu den anderen Schularten ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den unteren Kompetenzstufen gering und die Leistungen der Gymnasien sind gemäß den PISA-Daten auf dem Niveau der OECD-Spitze. Ich glaube, wir haben dringendere Baustellen, als den »Niedergangs-Blick« auf das Gymnasium zu kultivieren – nämlich zum Beispiel diejenigen mit Blick auf den Leistungsstand der gescheiterten integrierten Schularten. Das Gerede vom `Niedergang des Gymnasiums´ dient im politischen Geschäft einzig der Infragestellung des differenzierten Schulsystems mit seinen unterschiedlichen Säulen neben dem Gymnasium. Die Autoren der OECD-Studie äußern sich erfreulicherweise gleich selbst dazu in ihrem Berichtsband ‚PISA 2022 Ergebnisse‘ und weisen wissenschaftlich darauf hin, dass ‘12 Prozent der Varianz der Mathematikleistungen auf Unterschieden zwischen Bildungssystemen’ entfallen (S. 71). Fast 90 Prozent der Unterschiede beruhen also auf anderen Faktoren. Dies zeigt: Statt einer unsinnigen Schulart-Debatte brauchen wir endlich wieder vernünftige Rahmenbedingungen. Die Politik muss den Lehrkräftemangel nachhaltig und qualitätsorientiert angehen sowie den Fachunterricht wieder zur Priorität erklären. Lehrkräfte müssen von unterrichtsfernen Aufgaben entlastet werden, qualifiziert fortgebildet und dafür freigestellt werden. Und das Beherrschen der deutschen Sprache muss neu im Zentrum der Bildungspolitik stehen.«